"Die Welt", 20.12.1999
800 Abtreibungen kurz vor der Geburt
In Deutschland dürfen Ungeborene auch noch nach der 22. Schwangerschaftswoche abgetrieben werden - wenn eine Erbkrankheit oder eine Schädigung vor der Geburt diagnostiziert wird. Oft "misslingt" der Eingriff, und die Kinder kommen lebend zur Welt
Von Stefan Rehder
Tim lebt. Dabei sollte sein Geburtstag sein Todestag werden. Tims "Geburt" in der 26. Schwangerschaftswoche war eine "missglückte" Spätabtreibung. Der Dienst habende Arzt auf der Gynäkologischen-Geburtshilflichen Station der Städtischen Kliniken in Oldenburg hatte Tims Mutter das Wehen auslösende Hormon Prostaglandin verabreicht. "Normalerweise wird mit Prostaglandin die Geburt eingeleitet, wenn Mütter, den errechneten Geburtstermin überschreiten", erklärt Claudia Kaminski, Ärztin und Sprecherin der Kampagne "Tim lebt", die für ein gesetzliches Verbot der Spätabtreibungen wirbt. "Prostaglandin durchbricht den natürlichen Schutzmechanismus der Frau, deren Körper in der Schwangerschaft ganz aufs Halten ausgerichtet ist. Setzen die Wehen zu früh ein, wird das Kind, dessen Kopf dem Druck im noch nicht geweiteten Geburtskanal noch nicht standhalten kann, zerquetscht", sagt Claudia Kaminski.
Tims Kopf hielt stand. Heute lebt er in einer Pflegefamilie im Landkreis Cloppenburg. Es heißt, es geht ihm gut. So gut, wie es einem zweijährigem Jungen mit Down-Syndrom (Trisomie 21) eben gehen kann, der seine eigene Abtreibung überlebte und der, weil er neun Stunden ohne nennenswerte ärztliche Versorgung blieb, mit hoher Wahrscheinlichkeit zusätzliche Schäden davontrug.
Vermutlich wird Tims Leidensgeschichte, die Ende 1997 die Republik erschütterte, nun neu aufgerollt. Denn die Staatsanwaltschaft Oldenburg hat die Ermittlungen gegen den Dienst habenden Gynäkologen wegen des Verdachts auf Körperverletzung wieder aufgenommen. Der bekannte Strafrechtskommentator Herbert Tröndle hatte die Einstellung des Ermittlungsverfahrens im Septemberheft der "Neuen Strafrechtszeitung" einer vernichtenden Kritik unterzogen.
Ermittelt wird derzeit auch in Zittau, einer sächsischen Kleinstadt an der deutsch-polnisch-tschechischen Grenze. Der damalige Chefarzt der Abteilung Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Kreiskrankenhauses Zittau wird verdächtigt, am 23. April dieses Jahres einem Kind, das in der 29. Schwangerschaftswoche seine Abtreibung überlebte, mehrere Minuten lang eigenhändig Mund und Nase zugedrückt und es so getötet zu haben.
Wie die zuständige Staatsanwaltschaft Görlitz mitteilte, soll der am folgenden Tag von der Krankenhausleitung erst suspendierte und später fristlos entlassene Chefarzt das Kind, bei dem Zwergenwuchs vermutet worden war, zunächst "operativ aus dem Mutterleib entfernt" haben. "Der die Operation begleitende Anästhesist stellte bei der Besichtigung des Kindes plötzlich fest, dass es, wenn auch unregelmäßig, zu atmen begann", so Staatsanwalt Sebastian Matthieu, der die Ermittlungen leitet. Eine hinzugeeilte Ärztin und der Anästhesist hätten daraufhin sofort mit der künstlichen Beamtung des Kindes begonnen. "Als der Chefarzt bemerkte, dass das Kind reanimiert wurde, nahm er es an sich und unterdrückte über mehrere Minuten die weitere Beatmung beziehungsweise Eigenatmung des Kindes", erläutert Matthieu den Stand der Ermittlungen.
Ob es in Oldenburg und Zittau zur Anklage kommt, sei beim derzeitigen Stand der Ermittlungen nicht mit Bestimmtheit zu sagen, hieß es fast gleichlautend bei den zuständigen Staatsanwaltschaften.
So verschieden die Fälle des Oldenburger und des Zittauer Babys sind, sie sind keine Einzelfälle. Wie Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Ärztekammer Hamburg und Vorsitzender des Marburger Bundes, der WELT sagte, werden jedes Jahr bis zu 800 behinderte ungeborene Kinder nach Pränataler Diagnostik auch noch nach der 22. Schwangerschaftswoche abgetrieben. Laut Christian Albring, Fortbildungsleiter der Niedersächsischen Ärztekammer, kämen diese Kinder "in vielen Fällen" lebend zur Welt. Genaue Prozentzahlen ließen sich jedoch nicht angeben. "Das ist abhängig vom Schwangerschaftsalter. Eine Frau, die in der 16. Woche schon einen Abbruch durchführt, wird eher kein lebendes Kind zur Welt bringen, während eine Frau in der 24. Woche doch eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit hat, dass das Kind lebend zur Welt kommt", so Albring weiter. Ein Horror, der vielen Ärzten keine Ruhe lässt. Aufgeschreckt durch den Fall des "Oldenburger Babys", verabschiedete die Bundesärztekammer im November 1998 eine Erklärung zur Spätabtreibung, um Öffentlichkeit und Gesetzgeber auf offensichtliche und drängende Gesetzesmängel hinzuweisen.
Möglich wurden Spätabtreibungen durch die Novellierung des Paragrafen 218 im Juni 1995. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass die Fälle der früheren embryopathischen Indikation abgedeckt werden könnten. Die embryopathische Indikation wurde deshalb gestrichen. Unerwünschte Nebenwirkung: die frühere zeitliche Begrenzung für Abtreibungen wegen einer Erbkrankheit oder Schädigung vor der Geburt (22-Wochen-Frist) entfiel - ebenso wie die Beratungspflicht. Im Rahmen der medizinischen Indikation können solche Abtreibungen praktisch bis unmittelbar vor der Geburt stattfinden. Nach Ansicht des Medizinrechtsexperten und Würzburger Staatsanwalts Rainer Beckmann hat dies zu einer Entwicklung geführt, die manchen Arzt, der eine Spätabtreibung durchführt, in ein strafrechtliches Dilemma stürzt. "Kommt das ungeborene Kind lebend zur Welt, muss der Arzt nach der Rechtsprechung den Unterhalt für das behinderte Kind bezahlen, weil er den Abtreibungsvertrag nicht fachgerecht erfüllt hat. Will er dieser Haftung entgehen und tötet er das Kind nach der Geburt, sei es durch Unterlassen der gebotenen medizinischen Versorgung oder durch aktives Tun, macht er sich strafbar."
Der Fall "Tim" und auch das Geschehen in Zittau zeigten, sagt Beckmann, dass sich manche Ärzte offenbar dazu hinreißen lassen, das Ziel des Abtreibungsversuchs auch noch nach der Geburt des Kindes weiterzuverfolgen. "Wenn dies rechtlich geduldet wird, verschwimmen die Grenzen zwischen embryopathisch motivierten Abtreibungen und der Tötung von geschädigten Kindern nach der Geburt - mit unabsehbaren Folgen für das Lebensrecht Behinderter", warnt der Medizinrechtsexperte.
Die Forderungen der Ärzteschaft, Spätabtreibungen durch ein gesetzliches Verbot zu unterbinden, findet längst Unterstützung auch bei Parlamentariern. Für den CDU-Bundestagsabgeordneten Hubert Hüppe ist eine Änderung des Paragrafen 218 a deshalb unumgänglich. "Die unerträgliche Situation, dass behinderte Kinder bis zur Geburt getötet werden, ist 1995 durch den Gesetzgeber herbeigeführt worden", sagt Hüppe. "Wir können nicht einerseits mit Stolz darauf verweisen, die Diskriminierung Behinderter im Grundgesetz verboten zu haben, auf der anderen Seite aber die krasseste Form der Behindertenfeindlichkeit, ihre Tötung, so ungerührt hinnehmen, wie das die Bundesregierung tut."
Bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes hatte Hüppe eindringlich vor den Konsequenzen der erweiterten medizinischen Indikation gewarnt. Ohne Erfolg. Hüppe male unglaubliche "Horrorszenarien" an die Wand, lautete der parteiübergreifende Vorwurf. Doch nachdem Hüppe in den Folgejahren gemeinsam mit zahlreichen Unionsabgeordneten in mehreren parlamentarischen Anfragen immer wieder den gesetzgeberischen Handlungsbedarf aufgezeigt hatte, steht das Thema Spätabtreibung nun auf der politischen Agenda.
Kardinal von Galen:
Wenn es jetzt zunächst auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben. Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher.
Kardinal von Galen, aus seiner Predigt vom 03.08.1941 in der Lamberti-Kirche, Münster
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